Abschied von GO Fritz Streletz
Alles im Leben hat seine Zeit,
Zeit zu lachen und Zeit zu weinen,
Zeit zu lieben und Zeit zu trauern,
auch Zeit, um Abschied zu nehmen.
Wir sind heute hier, weil wir Abschied nehmen müssen, Abschied von GO Fritz Streletz. Nach langer geduldig ertragener Krankheit hat er am 24. März diesen Jahres im hohen Alter von 98 Jahren in einer Wohngemeinschaft für Senioren in Oranienburg die Augen für immer geschlossen. Ein aufrechter, national wie international hoch geachteter Militär der Nationalen Volksarmee der DDR weilt nicht mehr unter uns.
Julius Fucik, tschechischer Schriftsteller und Kommunist, schrieb einmal: „Stirbt ein Kämpfer, ermüdet von einem langen Leben und hochbetagt, so empfinden wir vor allem Trauer aus Dankbarkeit und Hochachtung für all das, was er einst geleistet hat.“
Fritz Streletz war ein solcher Kämpfer. Und wir trauern um Ihn aus Hochachtung und Dankbarkeit für all das, was er geleistet hat, für unsere Nationale Volksarmee, für die DDR, für den Warschauer Vertrag, für eine gerechte Gesellschaft, für die Erhaltung des Friedens. Und das war viel, sehr viel.
Wir werden ihn alle sehr vermissen, er wird uns fehlen.
Den trauernden Angehörigen gilt unser aufrichtiges Mitgefühl.
Nehmen Sie, liebe Frau Antje und lieber Herr Thomas Bitterlich mit ihrem Sohn Stieven und seiner Freundin Stephanie sowie Sie, liebe Frau Helga und Herr Bernd Rost noch einmal unser tief empfundenes Beileid entgegen.
Auch wenn Worte in solch schweren Stunden kaum Trost zu spenden vermögen, sollen Sie wissen, dass ungezählte Ehemalige und treue Weggefährten mit Ihnen fühlen.
Und all denen ist es ein Bedürfnis, an dieser Stelle Dank zu sagen. Danke, Genosse Generaloberst, danke, lieber Fritz, Du wirst in unser aller Erinnerung fortleben, wir werden Dir ein bleibendes Andenken bewahren.
Erinnern wir uns gemeinsam an den Menschen Fritz Streletz und versuchen wir, seinem bewegten Leben würdigend gerecht zu werden.
Ich möchte zunächst Fritz Streletz selbst noch einmal zu Wort kommen lassen und aus einem Lebenslauf, den er 1949 als junger Kommissar und Zugführer geschrieben hat, zitieren. Dieses handschriftlich, in akkurater Schrift und mit hoher Stabskultur gefertigte Dokument gehört zu den wenigen Hinterlassenschaften, die aus seiner Privatsphäre geblieben sind. Ich darf zitieren:
„Am 28.9.1926 wurde ich, Fritz Walter Streletz, als zweites Kind der landwirtsch. Arbeiterin Charlotte Streletz in Friedrichsgrätz, Kreis Oppeln O/S geboren. Mit 6 Jahren, im Jahre 1933, trat ich in die 8klassige Volksschule zu Fr. ein.
Im Jahre 1936 wurde ich, genauso wie meine Klassenkameraden, in das Deutsche Jungvolk aufgenommen. 1938 wechselten wir den Wohnsitz nach Eschenrode bei Magdeburg, wo meine Mutter den Bergmann Wilhelm Knabe heiratete. So erhielt ich mit 12 Jahren einen Stiefvater, der meine Erziehung jetzt übernahm.
Durch meinen Fleiß und meine gute Auffassungsgabe wurde ich der Liebling des dortigen Lehrers. Seine Beeinflussung auf mich machte sich bei der Berufswahl bemerkbar.
Gegen den Willen meines Vaters bewarb ich mich mit 14 Jahren für die Heeres-Uffz. Vorschule. Nach bestandener Annahmeprüfung wurde ich im April 1941 bei der Heeres-Uffz.Vorschule Deggendorf in Niederbayern eingestellt. Schon im ersten halben Jahr lernte ich den Militarismus und Kadavergehorsam kennen, aber wie immer kam auch bei mir die Reue zu spät.…“
Weiter schreibt dann Fritz Streletz:
„Nach Ableistung des dreimonatigen Arbeitsdienstes in Linz/Ö erhielt ich am 1.März 1944 meinen Stellungsbefehl, Meldung an der Waffenschule in Eutin/Holstein. Nach 5-monatiger Ausbildung kam ich im Juli 1944 zu einer Felddivision in Litauen. Dort erlebte ich nun den Rückzug im wahrsten Sinne des Wortes. …Nach dreimaliger Verwundung stand für mich eines fest, nur noch das Wegwerfen der Waffen und die Gefangenschaft kann unser Leben sowie das Leben tausender Frauen und Kinder retten. ….
Am 15. Februar 1945 ging ich bei Frankfurt/Oder in Gefangenschaft. Unsere Aufnahme und die Behandlung waren sehr gut. 1946 trat ich im Lager 7896 bei Moskau in das antifaschistische Jugendaktiv ein. Durch Zirkelabende und durch Selbstbildung wurden mir erstmals auf politischem Gebiet die Augen geöffnet.
Da ich zu den Bestarbeitern gehörte, hatte ich oft an Sonntagen Gelegenheit gehabt, mit dem Kapitän Moskau zu besichtigen. In mir wuchs die Überzeugung, dass wir uns nur einen Staat, nur einen Menschen als Vorbild nehmen dürfen. Das ist die SU mit ihren Menschen. Nach 3 ½ Jahren Gefangenschaft, die für mich sehr lehrreich waren, trat ich bei meiner Entlassung am 5.10.48 in die Volkspolizei ein, um aktiv für das zu kämpfen, was wir uns in der Sowjet-Union vorgenommen hatten.“
Soweit Fritz Streletz im September 1949 zur ersten Phase seines bewegten Lebens. Er war damals 23 Jahre jung.
Dass ihm ein Jahr vorher schon in Zerbst ein blondes Mädel namens Luise über den Weg gelaufen war, vergaß er wohl damals noch zu erwähnen. Egal, schon ein Jahr später, 1950 wurde geheiratet, und seitdem war ihm seine Luise eine treue Ehegefährtin, die ihn über all die Jahre begleitete und den Rücken freihielt, nicht immer einfach im unsteten Familienleben der ersten 13 Ehejahre mit 12 Umzügen.
Ab 1959 bereicherte Sohn Peter die junge Familie und genoss die ganze Fürsorge und Liebe seiner Eltern.
1964 wurde Antje, die Tochter der Lieblingsschwägerin Helga, mit gleicher Liebe aufgenommen.
Mit Eintritt in die bewaffneten Kräfte, noch in der damaligen Ostzone, kurz vor Gründung unseres Staates, der DDR, hatte auch für Fritz Streletz ein neues Kapitel seines noch jungen Lebens begonnen.
In der sowjetischen Kriegsgefangenschaft war er Bestarbeiter gewesen. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, um zu erwarten, dass er mit seinen dort gewonnenen neuen Erkenntnissen und seiner Begabung unsere ganz jungen, im Aufbau befindlichen Streitkräfte sehr bald bereichern und zu ihren „Bestarbeitern“ gehören würde.
Und genau so kam es, der Aufstieg eines Bergmann-Sohnes vom Zugführer, der ersten Offiziersdienststellung, zum Chef des Hauptstabes der NVA, Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung, Stellvertreter des OK der Streitkräfte des Warschauer Vertrages und darüber hinaus Sekretär des NVR der DDR. Ein Weg, der seinesgleichen sucht und der wohl nur in einem Staat wie unserer DDR von überzeugten und fähigen Menschen beschritten werden kann.
Im Schnelldurchlauf hört sich das so an:
– Gruppen- und Zugführer in zwei VP-Bereitschaften
– Stabschef, Ltr. Ausbildung und Leiter in drei weiteren VPB
– einjähriger Sonderlehrgang in der UdSSR
– Leiter der KVP-Dienststellen Großenhain und Oranienburg
– Offz.-Hörer an der Hochschule für Offz. in Dresden
– 1.Stellv. des Chefs MB lll
– Akademie des Generalstabes UdSSR
– Chef des Stabes MB lll
– ab 1964 StCHS für op.Fragen
– von 1979 bis 1989 StMuCHS, zugleich StOK der SK des WV
– darüber hinaus ab 1971 Sekretär des NVR
Das waren 41 Jahre disziplinierten Dienstes für unser Land, die DDR, mit zunehmend hoher Verantwortung, in den letzten 25 Jahren weit über die Verantwortung in der NVA hinausgehend.
Wo immer und in welcher Dienststellung auch immer, überall stellte er hohe Forderungen an seine Unterstellten, motivierte sie und ging mit gutem Beispiel voran. Er war ein strenger, stets fordernder, aber gerechter Vorgesetzter.
Ein guter Freund vertraute mir einmal im Vieraugengespräch an: „Wer einmal unter Streletz gedient hat, der hat gelernt, diszipliniert zu arbeiten und der weiß, was Stabskultur bedeutet.“
25 Jahre hat er in führenden Funktionen des Hauptstabes, davon 11 Jahre als dessen Chef, nicht nur gearbeitet. Er hat ihn geprägt, ihn zu einem im WV anerkannten Führungsorgan entwickelt. Durch persönliches Vorbild und hohe Forderungen an seine Unterstellten hat er eine ganze Generation von Stabsoffizieren und –generalen erzogen und gefördert.
Seine vorbildlichen Leistungen wurden verdientermaßen hoch gewürdigt. Ernennung in den Generalsrang und Beförderung bis zum Generaloberst, Auszeichnung mit dem Karl-Marx-Orden, der Ehrenspange zum Vaterländischen Verdienstorden in Gold und dem Scharnhorstorden zeugen von einer außerordentlich hohen Würdigung seiner Leistungen, vom ersten bis zum letzten Tag.
Die angespannten Ereignisse im Herbst 1989 gehörten zu den letzten, aber wohl auch zu den angespanntesten in seiner Dienstzeit. Auch seiner Besonnenheit und klugen militärischen Beratung unserer politischen Führung im Rahmen seiner Pflichten als Sekretär des NVR ist es mit zu verdanken, dass diese Ereignisse friedlich, ohne Waffengewalt verlaufen sind. Die dazu notwendigen Befehle, sowohl von E. Honecker als auch nach ihm von E. Krenz stammen aus seiner Feder.
Auf eigenen Wunsch beendete er dann seinen Dienst in der NVA mit Wirkung vom 31. 12. 1989.
Mit gewohnter Sorgfalt und Ernsthaftigkeit übergab er mir in den letzten Tagen des Jahres 1989 den Hauptstab der NVA. Als wir uns am letzten Tag voneinander verabschiedeten, gab er mir noch mit auf den Weg: „Versucht das Beste draus zu machen, seht vor allem zu, dass alles ruhig bleibt!“ Das war am Silvestertag 1989, gegen 16 Uhr.
Wir haben später noch oft darüber gesprochen.
Dann kam der 3.Oktober 1990.
Ein tiefer Einschnitt in unser aller Leben! Die Nationale Volksarmee würdelos aufgelöst, die DDR, unser Staat, einverleibt in die alte BRD, ohne Wenn und Aber.
Fritz Streletz gehörte zu den ersten DDR-Bürgern, die die „neue Freiheit und Demokratie“ zu spüren bekamen.
Am 20. 05. 1991, es war ein Pfingsttag, wurde er verhaftet.
Die Klassenjustiz der BRD begann zu realisieren, was ihr regierungsoffiziell verordnet worden war, die DDR zu delegitimieren.
Ohne den würdelosen und deprimierenden Verlauf des Strafverfahrens, das sich über mehrere Jahre erstreckte, an dieser Stelle noch einmal aufzurollen, sei hier vermerkt, dass 851 Tage U-Haft, 64 Verhandlungstage im sog. Honeckerprozess, die Verurteilung zu 5 1/2 Jahren Freiheitsentzug und danach die Ablehnung der Beschwerde von den höchsten angerufenen Gerichten bis zur Europäischen Menschenrechtskommission natürlich Spuren hinterlassen haben.
Aber mit Anerkennung und Hochachtung sei hier auch gesagt, ja, Fritz hat gelitten, seine Familie, besonders seine Ehefrau Luise, seine Familie, mit ihm. Aber seine Überzeugung, seine aufrechte Haltung, wurden nie gebrochen.
In den folgenden „Politbüro-Prozessen“ und in 12 „Grenzer-Prozessen“, hat er, selbst hart verurteilt, als „Sachverständiger“ vor Gericht für die Wahrheit gestritten, ist gegen Verunglimpfungen der DDR, der NVA und der GT aufgetreten. Für die jeweils Angeklagten war das eine große moralische Unterstützung, ich weiß aus eigener Erfahrung, wovon ich spreche.
Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern unseres „Verbandes zur Pflege der Traditionen der NVA und der GT“, war Mitglied dessen Ältestenrates, hat unser Verbandsleben durch zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen wesentlich bereichert und damit zur Wahrheitsfindung über die NVA und den Warschauer Vertrag beigetragen. Auch in anderen Verbänden des OKV, z.B. der GRH und bei ISOR, fanden seine gelegentlichen Vorträge große Beachtung, ebenso wie als Mitautor des bekannten Buches „Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben.“
Darüber hinaus musste Fritz Streletz weitere Enttäuschungen verkraften, trotz aller Standhaftigkeit und moralischen Kräfte.
Am schmerzlichsten empfand er wohl das Schweigen der Sowjetunion zur politischen Verfolgung der DDR-Eliten, ganz besonders das der militärischen Führung, einschließlich des OK des WV. Davon berichtet sehr deutlich ein verbitterter Brief, den er an Marschall Kulikow richtete.
Mit großem Befremden musste er auch erleben, wie bei der feierlichen Verabschiedung der Westgruppe der Streitkräfte aus Deutschland im Jahre 1994 die Begriffe NVA und Waffenbrüderschaft nicht einmal erwähnt wurden, wohlgemerkt von keiner der beiden Seiten, und dass nicht ein einziger ehemaliger NVA-Angehöriger eingeladen war, jener Armee, die in fester Waffenbrüderschaft mit der Westgruppe der Sowjetarmee ihren Dienst getan hatte.
Auch rein familiär musste ein harter Schicksalsschlag verkraftet werden. Im Juli 2002 kam Enkel Christopher im jungen Alter von 21 Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben.
Ausgesprochen erholsam hingegen für ihn und seine Gattin waren die wiederholten Reisen nach Kuba. Eine freundschaftliche militärische Zusammenarbeit unser beider Armeen, z.B. bei der Grenzsicherung zu Guantanamo noch während unserer Dienstzeit, hatte sich zu einer herzlichen Soldatenfreundschaft entwickelt, die die Jahre und Ereignisse überdauerte. Es kam zu jährlichen Besuchen auf Kuba auf Einladung des Verteidigungsministers Raul Castro, für Fritz „Urlaub in seiner zweiten Heimat“.
Auch eine dreiwöchige Reise nach China auf Einladung des langjährig in der DDR akkreditierten Militärattachés nahm er mit Freuden wahr und berichtete danach mit Hochachtung und Begeisterung von der vor Ort erlebten erfolgreichen Entwicklung dieses Riesenlandes.
So gingen die Jahre ins Land. Der vielseitig interessierte Fritz Streletz stellte sich überall dort zur Verfügung, wo seine reichen langjährigen Erfahrungen im Interesse der Erhaltung des Friedens gebraucht wurden – bis ihn letzten Endes seine Kräfte mehr und mehr im Stich ließen.
2013 verstarb seine liebe Luise nach langer Krankheit, sein langjähriger privater zuverlässiger Halt. Ein herber Verlust für ihn!
Er begann sich in den Folgejahren allmählich zurückzuziehen, wurde schließlich in den letzten 4 – 5 Jahren selbst zum Pflegefall. Zunächst in häuslicher Atmosphäre liebevoll umsorgt von Antje und Thomas, Stieven und Stephanie, immer unterstützt vom Team „Pflegetraum“, seit Mitte des Jahres 2023 dann in einer „speziellen Wohngemeinschaft“ für Senioren in Oranienburg.
Am 24. März schließlich verließen ihn seine Kräfte endgültig, und er schloss seine Augen für immer.
Danke, Genosse Generaloberst, danke, lieber Fritz.
Du, dein rastloses Schaffen für die Erhaltung des Friedens bleiben uns unvergessen.
Ruhe in Frieden, Du hast es Dir verdient.
Manfred Grätz,
GL a.D.
30. April 2025
